Auch reden lernen ist im Verein am schönsten: Die „Berliner Meisterredner“ haben die US-amerikanische „Toastmasters“-Idee nach Charlottenburg geholt. Weggetrimmt werden Fuchteln und „Äh“-Sagen. Dazu gibt es viel Gruppengefühl und original amerikanische Lebensphilosophien.
von THOMAS GOEBEL / taz Berlin lokal
Das Charlottenburger „Nachbarschaftshaus am Lietzensee“ hat den puritanischen Charme protestantischer Gemeindehäuser – wer sich hier trifft, der kommt, um zu arbeiten. So wie die „Berliner Meisterredner“. Der Name des Vereins beschreibt das Ziel seiner Mitglieder, nicht den Ist- Zustand: Die Meisterredner, das sind Menschen, die gerne besser reden können würden. Zum Üben treffen sie sich jeden ersten und dritten Donnerstag im Monat um halb acht im „Nachbarschaftshaus„. Seit einem Jahr gibt es den Berliner Redeclub, bei jedem Treffen kommen ein paar neue Mitglieder dazu.
Seit ein paar Wochen ist auch Holger dabei, heute Abend soll er nun seine erste Rede halten, den so genannten Eisbrecher. Holger ist Lehrer, der schmale Mann mit Nickelbrille und kurzen grauen Haaren müsste das freie Sprechen gewöhnt sein, und doch ist er nervös. Eine richtige Rede – wo lernt man das schon. Ganz vorne sitzt Holger am langen Holztisch des schlichten Versammlungsraums und wartet gemeinsam mit seinen rund 30 Clubkollegen auf den Beginn des Vereinsabends.
Jeder dieser Abende ist klar strukturiert, ein Ablaufplan gibt das genaue Programm vor. „19.35 Uhr: Begrüßung durch die Vorsitzende“ steht unter Punkt eins, die fünf Minuten Wartezeit sind für etwaige Verspätungen der Mitglieder eingeplant. Pünktlich um fünf nach halb tritt Patricia Steinmann an das schlichte Holzpult, das auf der schmalen Seite des Tisches steht. Die Präsidentin der Berliner Meisterredner ist ebenfalls Lehrerin, sie hat die Redeclubs im angelsächsischen Raum kennen gelernt und gehört zu den Berliner Gründungsmitgliedern. Mit ruhiger Stimme erläutert Steinmann minutengenau den Ablauf des Abends, sie erklärt, wer heute moderieren, wer eine Rede halten und wer diese bewerten wird. Nebenbei demonstriert sie das Lernziel: Die Sätze ihrer kurzen Rede sind klar, sie artikuliert deutlich und unterstreicht die Worte mit vorbildlichen Gesten – nicht zu ausladend, nicht zu zurückhaltend.
Form und Funktion spielen die Hauptrolle bei den Abenden der Meisterredner. Alle haben das gemeinsame Ziel, die rednerischen Fähigkeiten jedes Einzelnen zu verbessern. Der Ansatz des Clubs ist pragmatisch und erfolgsorientiert; er geht zurück auf die 1924 in den USA gegründete Toastmaster-Bewegung. Inzwischen gibt es 9.000 Vereine in 70 Ländern. In Berlin arbeiten zwei englischsprachige Toastmasters-Clubs und die deutschsprachigen Meisterredner. Die Mitglieder sind bunt gemischt, von Studenten über Unternehmensberater und Computerfachleute bis zu Psychologen reicht das Spektrum.
Die Moderatorin des Abends ruft Holger nach vorne ans Stehpult; die Vereinskollegen begrüßen ihn mit heftigem Applaus. Holgers Hände suchen Halt, ziehen ein wenig an seiner Strickjacke mit Norwegermuster. Holger lächelt vorsichtig und beginnt zu sprechen. Er erzählt von sich und seiner Familie, von seinen Eltern, seinen Brüdern, von seinem Sohn. Je länger er spricht, desto sicherer klingt seine Stimme; die Sätze werden flüssiger, und auch die Hände lösen sich zu Gesten, unterstützen eine Betonung oder zeigen den Unterschied von kleinem und großem Bruder.
Holger spricht frei, doch man hört ihm die Mühe an, die er sich bei der Vorbereitung der Rede gegeben hat. Die sieben Minuten seines „Eisbrechers“ sind gut strukturiert, immer wieder versucht er, die Stationen seiner Biografie metaphorisch zu verknüpfen: Holger spricht von „Eiszeiten“, „frostigen Verhältnissen“, Tauwetter“, und sogar „Väterchen Frost“ findet seinen Platz. Die Clubkollegen lächeln freundlich, Holger schaut erleichtert ins Publikum, es ist geschafft. Kräftiger Applaus.
Die Atmosphäre bei den Meisterrednern ist trotz des rigiden Ablaufs betont herzlich. Jeder duzt jeden, alle Wortmeldungen werden demonstrativ beklatscht. Die Bewertung der drei bis vier Reden des Abends allerdings ist wieder streng geregelt: Für jeden Bereich gibt es ein Amt, das für jedes Treffen neu besetzt wird: den Zeitnehmer, den „Äh“-Zähler, den Sprachstilbewerter. Auch die Kritik ist Teil des Trainings: Auch die Bewerter kleiden ihre Anmerkungen in die Form einer kleinen Ansprache.
Holger bekommt gute Kritiken, die Kollegen haben kaum etwas auszusetzen. Doch auch bei schwächeren Reden ist die Kritik im Club dezidiert positiv, sie soll ermutigen und praktische Tipps zur Verbesserung der eigenen Leistung geben: Versuch mal, ruhiger zu stehen; vielleicht würde es dir helfen, die Notizen größer zu schreiben; bewegt doch mal die Hände beim Sprechen. Fehler sind bei den Meisterrednern erlaubt, sie gelten als Chance, zu lernen.
Das Prinzip der Toastmasters-Clubs ist uramerikanisch, es lautet: Du kannst es schaffen, wenn du nur willst, und die Gruppe hilft dir dabei. Auch wenn diese Mischung aus bewusster Lockerheit und strikter Ausrichtung am persönlichen Erfolg im Nachbarschaftshaus am Lietzensee ein wenig künstlich wirkt – der Amerikanismus im Charlottenburger Stil ist ein Erfolgsmodell.
Seit diesem Jahr sind die Berliner Meisterredner „gechartert“, das heißt: Sie haben genug ständige Mitglieder, um als offizieller Toastmasters-Club anerkannt zu werden. Auf dem Tisch vor dem Holzpult steht der gelbe Wimpel mit dem Toastmasters-Wappen. „Wie ist unsere Clubnummer?“, fragt Präsidentin Steinmann zum Abschluss des zweistündigen Abends stolz in die Runde. „1633!“, schallt es zurück. Mit dieser Nummer können die Berliner Meisterredner nun an Wettbewerben teilnehmen und durch eine Reihe von vorbereiteten und Stegreifreden verschiedene Meisterredner-Grade erwerben – vom CTM (Competend Toastmaster) über den ATM (Advanced Toastmaster) in Bronze, Silber und Gold bis zum DTM (Distinguished Toastmaster).
Wer etwas geleistet hat, so lautet bei den Meisterrednern der Deal, der soll auch davon sprechen können. Holger hat noch einen weiten Weg vor sich bis zum DTM, doch der erste Schritt ist gegangen. Und Rede Nummer zwei ist schon in Arbeit.
Quelle: taz Berlin lokal Nr. 6999 vom 8.3.2003, Seite 35, 227 Zeilen (TAZ-Bericht), THOMAS GOEBEL